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Das Rätsel der Glukosetoxizität

Schutz vor Insulinomen, aber Risiko für Diabetes?

Über längere Zeit erhöhte Blutzuckerkonzentrationen können die Funktion insulinproduzierender Betazellen in der Bauchspeicheldrüse beeinträchtigen. Diese "Glukosetoxizität" wurde bereits im Jahre 1914 vermutet[1], und erstmals 1948 tierexperimentell bewiesen[2]. Heute ist dieser Effekt auch beim Menschen wohlbekannt, und es konnte sogar gezeigt werden, dass sich die Betazellfunktion durch eine verbesserte Diabetestherapie teilweise wiederherstellen lässt[3-5].

Könnte diese toxische Wirkung der Blut-Glukose einen biologischen Sinn haben? Wenn ja: Welchen Überlebensvorteil hat der Organismus von einer Schädigung der Betazellen durch hohe Blutzuckerkonzentrationen? Zunächst einmal erscheint dieser Effekt paradox.

Eine plausible Erklärung liefert nun die Arbeitsgruppe für Systembiologie um Uri Alon am Weizmann-Institut in Israel. Sie baut auf der Theorie der dynamischen Kompensation (s. DGE-Blogbeitrag vom 26. Januar 2022) auf. Danach stimuliert eine erhöhte Blutzuckerkonzentration nicht nur die Insulinsekretion aus Betazellen in der Bauchspeicheldrüse, sondern über längere Zeit auch die Vermehrung von Betazellen, wie man das beispielsweise bei Übergewicht mit Insulinresistenz beobachtet. Eine Vermehrung der Zellmasse erhöht allerdings notwendigerweise auch das Risiko für Mutationen. Wenn durch die Mutation der Betazelle die Empfindlichkeit für Glukose erhöht wird, reagiert sie bereits bei einem normalen Blutzucker so, als wäre er deutlich erhöht, produziert also mehr Insulin. Das würde bedeuten, dass bei Übergewicht und Adipositas ein höheres Risiko für insulinproduzierende Insulinome besteht, was aber gar nicht der Fall ist.

In Wirklichkeit sind Insulinome seltene Tumoren der Bauchspeicheldrüse. Die Forscher konnten nun zeigen, dass ihre Entwicklung genau dadurch verhindert werden kann, dass bei deutlich erhöhten Blutzuckerspiegeln (ab ca. 270 mg/dl / 15 mmol/l) die Betazellmasse wieder abnimmt. Durch die Umkehrung der Wachstumsantwort bei sehr hohen Glukosekonzentrationen wird ihr Wachstum gehemmt und so eine autonome Vermehrung verhindert, während sich gesunde Zellen noch vermehren können.[6] Bei zunehmendem Lebensalter (wenn in der Regel auch die Insulinresistenz zunimmt und die Blutzuckerspiegel zu höheren Werten tendieren) wird dieser Effekt durch Mechanismen der zellulären Seneszenz noch weiter verstärkt[7] Das bedeutet, dass auch Alterungsprozesse, die ja mit einem erhöhten Diabetesrisiko einhergehen, durchaus einen biologischen Nutzen haben können.

Kommentar

Die von Omer Karin und Uri Alon beschriebene biphasische Antwort des Betazellwachstums auf den Blutzuckerspiegel sorgt dafür, dass Insulinome eine seltene Erkrankung bleiben. Die Integration der Zellseneszenz in den Mechanismus der dynamischen Kompensation, wie von Itay Katzir beschrieben, verstärkt diesen Schutzmechanismus noch.

Der Preis, den wir dafür zahlen, heißt Diabetes mellitus Typ 2. Gerade durch den vorherrschenden ungünstigen Lebensstil, der durch die Kombination aus Überernährung und Bewegungsmangel gekennzeichnet ist, kann die Schwelle zum Betazellverlust überschritten werden. Die Folge ist ein Teufelskreis: Durch die verminderte Betazellmasse steigt die Glukosekonzentration an, die dann zu einem weiteren Betazellverlust führt und schließlich in einen Diabetes mellitus Typ 2 mit Sekretionsstörung (SIDD-Diabetes, s. DGE-Blogbeiträge vom 1. Mai 2018 und vom 22. August 2019) mündet.

Die Theorie der biphasischen Antwort liefert eine überzeugende Erklärung für die Vor- und Nachteile der Glukosetoxizität. Letztlich wirft sie aber auch ein Licht auf den Weg, der vielleicht einmal vom Typ-2-Diabetes zurückführen könnte.

J. W. Dietrich, Bochum

Literatur

  1. Homans J.: Degeneration of the Islands of Langerhans associated with experimental Diabetes in the Cat. J Med Res. 1914 Mar; 30(1):49-68.5. PMID: 19972160; PMCID: PMC2094399.

  2. DOHAN FC, LUKENS FD.: Experimental diabetes produced by the administration of glucose. Endocrinology. 1948 Apr; 42(4):244-62. doi: 10.1210/endo-42-4-244. PMID: 18915894

  3. Garvey WT, Revers RR, Kolterman OG, Rubenstein AH, Olefsky JM.: Modulation of insulin secretion by insulin and glucose in type II diabetes mellitus. J Clin Endocrinol Metab. 1985 Mar; 60(3):559-68. doi: 10.1210/jcem-60-3-559. PMID: 3882736.

  4. Pennartz C, Schenker N, Menge BA, Schmidt WE, Nauck MA, Meier JJ.: Chronic reduction of fasting glycemia with insulin glargine improves first- and second-phase insulin secretion in patients with type 2 diabetes. Diabetes Care. 2011 Sep; 34(9):2048-53. doi: 10.2337/dc11-0471. Epub 2011 Jul 20. PMID: 21775756; PMCID: PMC3161280.

  5. Meier JJ, Pennartz C, Schenker N, Menge BA, Schmidt WE, Heise T, Kapitza C, Veldhuis JD.: Hyperglycaemia is associated with impaired pulsatile insulin secretion: effect of basal insulin therapy. Diabetes Obes Metab. 2013 Mar; 15(3):258-63. doi: 10.1111/dom.12022. PMID: 23039360.

  6. Karin O, Alon U.: Biphasic response as a mechanism against mutant takeover in tissue homeostasis circuits. Mol Syst Biol. 2017 Jun 26; 13(6):933. doi: 10.15252/msb.20177599. PMID: 28652282; PMCID: PMC5488663.

  7. Katzir I, Adler M, Karin O, Mendelsohn-Cohen N, Mayo A, Alon U.: Senescent cells and the incidence of age-related diseases. Aging Cell. 2021 Mar; 20(3):e13314. doi: 10.1111/acel.13314. Epub 2021 Feb 8. PMID: 33559235; PMCID: PMC7963340.

zuletzt bearbeitet: 22.03.2022 nach oben

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