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Forschung aktuell
Digitale Zwillinge in der Endokrinologie
Aktuelle Studien vorgestellt und kommentiert von Prof. Helmut Schatz
Ein "digitaler Zwilling" ist eine virtuelle Repräsentation pathophysiologischer Prozesse in einem individuellen Patienten (siehe Blogbeitrag vom 17. November 2024). Sie kann für die Diagnostik von Erkrankungen und für die Therapieplanung genutzt werden. Auch in der Endokrinologie fasst dieses Konzept immer mehr Fuß. Beispiele für erfolgreiche Anwendungen finden sich etwa in der Diabetologie und der Schilddrüsenmedizin.
Das Prinzip besteht darin, dass durch Methoden der Systembiologie, der Genomik oder des maschinellen Lernens aus Datensätzen eines Patienten Parameter extrahiert werden, mit denen ein personalisiertes Modell entwickelt wird, das dann für diagnostische oder therapeutische Entscheidungen verwendet werden kann.
Anwendungen in der Diabetologie
Digitale Zwillinge bewähren sich Insbesondere in der Therapie des Diabetes mellitus Typ 1. Sie helfen beispielsweise, die Regelungsalgorithmen moderner sensorgestützter Insulinpumpen (AID-Systeme) zu verbessern, indem sie auf der Grundlage eines mathematischen Modells den Verlauf des Blutzuckers vorhersagen. Mit Hilfe dieser modellprädiktiven Regelung (MPC) kann die Basalrate und Bolusabgabe der Insulinpumpe so optimiert werden, dass die Auslenkungen des Blutzuckers (glykämische Variabilität) minimiert werden. Herausforderungen bestehen noch in der Vorhersage externer Einflüsse auf die Glukosekonzentration wie Ernährung und Sport.
Kürzlich konnte gezeigt werden, dass auch Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 und anderen Manifestationen des metabolischen Syndroms vom Einsatz virtueller Zwillinge profitieren. Ein kürzlich veröffentlichtes mathematisches Modell der Glukosehomöostase konnte den Gewichtsverlauf und die Insulinsensitivität von Probanden korrekt vorhersagen [Herrgårdh et al. 2023]. Ein anderes Modell aus der Arbeitsgruppe des Verfassers (J.W.D.) kann aus Nüchternkonzentrationen für Insulin und Glukose mit mathematischen Methoden individuelle Parameter des Regelkreises und einen statischen Dispositionsindex ermitteln. Die neuen Maßzahlen sind zugleich kostengünstiger, zuverlässiger (reliabler) und diagnostisch genauer als aufwändigere Verfahren [Dietrich et al. 2024].
In einer weiteren Studie wurden Patienten mit "Wearables", d. h. mit einem Glukosesensor und einer Smart-Watch ausgestattet, so dass Echtzeitdaten zur Konzentration des Gewebezuckers, zur körperlichen Aktivität, zur Herzrate und zum Energieverbrauch gewonnen werden konnten. Die Daten wurden durch einen Algorithmus mit maschinellem Lernen integriert und anschließend individuelle Empfehlungen an die Patienten abgegeben. Es konnte dabei gezeigt werden, dass in der Interventionsgruppe die HbA1c-Fraktion innerhalb eines Jahres um 2,9% absank, während sie in der Kontrollgruppe nur um 0,3% sank. In 72,7% der Patienten konnte mit der Methode eine Remission des Diabetes mellitus Typ 2 erreicht werden. Außerdem verbesserten sich Fettgehalt und Fibrose der Leber bei stoffwechselbedingter Fettleber (MASLD) [Joshi et al. 2023].
Eine andere Studie konnte auf der Grundlage der metabolischen Flux-Analyse die Entwicklung einer diabetischen Nephropathie mit hoher Zuverlässigkeit vorhersagen [Surian et al. 2024]. Der sogenannte HealthVector Diabetes-Algorithmus war selbst mit unvollständigen Daten noch anwendbar.
Anwendungen in der Schilddrüsenmedizin
Auch für die Diagnose und Therapie von Schilddrüsenerkrankungen können virtuelle Zwillinge von Vorteil sein. Eine Studie konnte bei Patienten mit unterschiedlichen Gründen für eine Thyreotoxikose aus gemessenen Hormonkonzentrationen mit Hilfe eines mathematischen Modells die Aktivität von Step-Up-Dejodinasen rekonstruieren und zeigen, dass sich die Dejodinasenaktivität besser zur Differentialdiagnose zwischen echter Hyperthyreose und Thyreotoxicosis factitia als andere Parameter eignet [Hoermann et al. 2020].
Möglicherweise könnte sich ein digitaler Zwilling auch für die Therapieplanung der Hypothyreose eignen. Mit Hilfe eines neuartigen Algorithmus kann der individuelle Sollwert des Regelkreises zuverlässig rekonstruiert werden [Li et al. 2021]. Wenn die Ergebnisse durch eine prospektive Studie bestätigt werden, könnte damit ein neues, personalisiertes therapeutisches Ziel für die Behandlung von Patienten mit Hypothyreose und reduzierter Lebensqualität (Syndrom T) zur Verfügung stehen.
Die bei Insulinpumpen immer häufiger eingesetzte Technik der modellprädiktiven Regelung kann auch bei Schilddrüsenerkrankungen von Nutzen sein. Auf dieser Grundlage wurde eine Therapiesequenz für die Behandlung der schweren Hypothyreose entwickelt, mit der die Zeit bis zur Erreichung einer Euthyreose stark beschleunigt werden kann [Wolff et al. 2022]. Diese Methode wird in der Einrichtung des Verfassers inzwischen für die Behandlung des Myxödemkomas mit sehr guten Ergebnissen eingesetzt.
J. W. Dietrich
Literatur
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