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Was macht den peripheren Nerven krank?

Abstract zum Vortrag von Professor Dr. med. Karlheinz Reiners, Stv. Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums Würzburg, im Rahmen der Pressekonferenz von WÖRWAG Pharma am 13. Mai 2015 anlässlich des Diabetes Kongresses 2015 in Berlin.

Suche nach Ursachen und Risiken der diabetischen Neuropathie

Professor Dr. med. Karlheinz Reiners Obwohl bei Patienten mit diabetischer Neuropathie durch die Bezeichnung selbst suggeriert wird, dass die Grunderkrankung Diabetes mellitus die führende Ursache ist, macht allein die Tatsache, dass keine vorhersagbare Beziehung zwischen der Schwere des Diabetes und der Schwere der Neuropathie besteht, deutlich, dass die Suche nach den Ursachen der Neuropathie einen weiteren Kontext von Modifikatoren und Risikofaktoren einbeziehen muss.

Hierbei lassen sich Stoffwechselfaktoren wie Dyslipidämie, gestörte Mitochondrienfunktion, vermehrte Sauerstoffradikale, Hexosamine, Polyole, glykierte Proteine und andere Verbindungen, die beim Diabetiker in abnormer Konzentration oder abnormer Struktur vorkommen, aber nicht direkt vom Patienten beeinflussbar sind, unterscheiden von pathogenetischen Faktoren, die der Betroffene selbst zumindest zum Teil steuern kann. Zu diesen, heute oft dem Lebensstil zugerechneten, Einflussgrößen zählen vor allem

Nicht vom Diabetiker steuerbare Einflussfaktoren sind hingegen solche wie

Jede Strategie, die eine diabetische Neuropathie erfolgreich behandeln will, muss alle diese Faktoren einbeziehen, sonst wird sie nicht langfristig erfolgreich sein können.

Klinische Formen der Neuropathie bei Diabetes

Im Rahmen des Diabetes mellitus treten verschiedene Formen der Neuropathie auf, die sich sowohl in der klinischen Präsentation wie auch pathogenetisch unterscheiden (Reiners und Haslbeck, 2006). Die gängigen Einteilungen basieren auf Unterschieden in der Verteilung neuropathischer Symptome am Körper (längenabhängig vs. nicht-längenabhängig bzw. fokal-regional) und den im Vordergrund stehenden Symptomen (sensibel vs. sensomotorisch vs. autonom). Für die klinische Einordnung hat sich die Klassifikation nach dem Verteilungstyp als besonders hilfreich erwiesen, da sie schon bei der Untersuchung des Patienten vorgenommen werden kann und gleichzeitig pathogenetische Faktoren mit einbezieht (Tab. 1).

Tab.1: Diabetische Neuropathien

Bezeichnung Verteilung der Symptome Art der Störung Häufigkeit
distal-symmetrische längenabhängige Polyneuropathie distal betont, untere Extremitäten früher und deutlicher betroffen als obere Extremitäten anfangs: sensibel später: sensibel und motorisch im Verlauf häufig neuropathische Schmerzen, distal betont > 85 %
fokale Neuropathien Mononeuropathien von N. femoralis ("diabetische Amyotrophie", Hirnnerven-Neuropathie des III. Hirnnerven (N. okulomotorius, "diabetische Ophthalmoplegie") Oligoneuropathien rein motorisch, initial oft starke neuralgische Schmerzen im Vordergrund, persistierende Muskelatrophie möglich 5-10 %
autonome Neuropathie Sympathikus und Parasympathikus autonome Funktionsstörungen begleitend zur distal-symmetrischen Form, selten als isolierte small fiber-Neuropathie 20-70 % (abhängig von Untersuchungsaufwand)
Mischformen sensibel-autonom-motorisch s. o.  

Die fokalen diabetischen Neuropathien müssen immer gegen andere lokale Ursachen abgegrenzt werden und erfordern deshalb die Hinzuziehung von Neurologen, Radiologen oder Orthopäden (Doppler und Reiners, 2015).

Spezielle Neuropathieform in spezieller Ausgangslage: Behandlungsinduzierte Neuropathie des Diabetes, "Insulin-Neuritis"

In den letzten Jahren ist eine spezielle Situation identifiziert worden, in der bei Diabetikern eine besonders schwere und akut schmerzhafte Neuropathie auftreten kann. Bei Patienten mit langfristig und schwer entgleistem Diabetes kann die rasche Normalisierung des Stoffwechsels ebenso schnell zur Ausbildung einer ausgeprägt schmerzhaften, sensiblen und autonomen Neuropathie führen, die als "Behandlungsinduzierte Neuropathie des Diabetes (treatment-induced neuropathy of diabetes, TIND)" bezeichnet wird. Das im Vordergrund stehende klinische Merkmal ist ein akuter neuropathischer Schmerz in den Füßen und Unterschenkeln, das sich innerhalb von wenigen Wochen nach oder unter Normalisierung des Blutzuckers einstellt. Bei Reduktion des HbA1c innerhalb von 3 Monaten um mehr als 4 % treten Schmerzen auch in den Händen oder am ganzen Körper auf. Betroffen sind die kaliberschwachen sensiblen und autonomen parasympathischen und sympathischen Nervenfasern (Gibbons und Freeman, 2007 u. 2015). Ein wichtiger Ausgangs-Risikofaktor ist ein Untergewicht (diabetische Kachexie/Anorexie) mit Glukose-Unterversorgung der Gewebezellen infolge Insulinmangels oder Unterernährung. Die Erkrankung ist innerhalb von 3-8 Monaten selbst limitierend, erfordert aber in dieser Zeit eine konsequente Schmerztherapie. Die oft gleichzeitige akute Verschlechterung einer diabetischen Retinopathie oder Nephropathie weist auf eine zugrunde liegende mikrovaskuläre Störung hin.

Die unkommentierte Bezeichnung "Behandlungsinduzierte Neuropathie" und die weitgehend überlappende Bezeichnung "Insulin-Neuritis" (Dabby et al. 2009) in früheren Jahren ist potenziell gefährlich, da sie suggeriert, dass eine effektive Stoffwechselnormalisierung bei Diabetikern generell mit einer wesentlichen Gefährdung bezüglich einer Neuropathie einhergehe. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr ist diese spezielle Neuropathieform an die sehr spezifische Konstellation eines zuvor verwilderten Diabetes bei meist niedrigem Körpergewicht vor besonders rascher Stoffwechselkorrektur gebunden.

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Grundlage des 3-Säulen-Schemas

Die Behandlung jeder Neuropathie umfasst nicht-medikamentöse und medikamentöse Maßnahmen. Bei den nicht-medikamentösen Maßnahmen steht die Prävention der Entwicklung und - falls notwendig - die Behandlung eines diabetischen Fußsyndroms im Vordergrund. Häufig unterschätzt wird der Beitrag, den die Physiotherapie bei der Prävention und Therapie der Neuropathie leisten kann. So ist die Krankengymnastik nicht nur sinnvoll, um die Muskulatur zu trainieren und damit besonders dem Muskelschwund im Alter (Sarkopenie) entgegen zu wirken, sondern dient auch dazu, ein Gangsicherheitstraining mit Sturzprävention durchzuführen und langfristig die Gelenkbeweglichkeit in neuropathisch bedingt immobilen Gelenken zu sichern.

Die medikamentöse Therapie beruht stadienabhängig mit breiter Überlappung auf drei Säulen, die sich wie folgt definieren lassen:

Säule I: Stoffwechsel optimieren

Übergeordnetes Behandlungsziel ist die Erzielung einer Normoglykämie. Hierzu sind in erster Linie internistische Maßnahmen zur Blutzuckereinstellung erforderlich, die je nach Einzelfall in der Verordnung von oralen Antidiabetika mit unterschiedlichen Angriffspunkten oder Insulin besteht. Eine sehr strikte Einstellung des Blutzuckers ist besonders in späten Stadien der Erkrankung allerdings mit höheren Risiken behaftet (Typ 1: Kähler et al. 2014; Typ 2: Boussageon et al. 2011).

Säule II: Pathogene Stoffwechselwege blockieren

Zentraler Ansatzpunkt der pathogenetisch orientierten Therapie der diabetischen Neuropathie ist heute die Gabe von Benfotiamin, einem fettlöslichen, ausgezeichnet resorbierbaren Thiamin (Vitamin B1)-Derivat, mit dem Ziel der Blockierung pathogener Stoffwechselwege (Thornalley 2005). Experimentell wurde belegt, dass Benfotiamin an vier entscheidenden Reaktionen beteiligt ist, die ursächlich für die Entwicklung der diabetischen Neuropathie sind (Hammes et al. 2003, Berrone et al. 2006). Bemerkenswert ist dabei, dass die primär metabolischen Wirkungen unmittelbare Folgen für die Funktion der Gefäßendothelien haben, so dass alle mikrovaskulären Komplikationen des Diabetes potentiell günstig beeinflusst werden, somit auch die diabetische Neuropathie (Stracke et al. 2001, 2008). Erfolgversprechend ist nach diesen Befunden besonders die frühe Intervention mit Benfotiamin. Die Erkenntnisse über den bei Diabetikern schon frühzeitig einsetzenden renalen Thiamin-Verlust verleihen diesem Aspekt besonderen Nachdruck (Babaei-Jadidi R et al. 2003; Thornalley et al. 2007). Die Ergebnisse einer ersten Interventionsstudie mit Thiamin bestätigen die Bedeutung einer frühen Vitamin B1-Substitution (Rabbani et al. 2009). Die Behandlung mit Alpha-Liponsäure hat eine lange Tradition, besonders für die Behandlung schmerzhafter diabetischer Neuropathien. Erst in den letzten Jahren wurde die Bedeutung und prophylaktische Wirkung der antioxidativen Eigenschaften dieser Substanz verwertbar experimentell untersucht. Bei Tiermodellen der diabetischen Neuropathie konnte durch Gabe von AlphaLiponsäure die Entwicklung einer diabetischen Neuropathie verhindert und auch in fortgeschrittenen Stadien blockiert werden (Zusammenfassung bei Ziegler 2009). Nach den Befunden der Arbeitsgruppe von Brownlee könnte ein wichtiger Synergismus zwischen der Benfotiamin- und Alpha-Liponsäure-Wirkung bestehen (Du et al. 2008).

Säule III: Symptomatische Therapie, insbesondere gegen neuropathische Schmerzen

Besonders für die schmerzhafte diabetische Neuropathie ist eine symptomatische Therapie verfügbar (Tab. 2), die sich an den Behandlungsgrundsätzen des neuropathischen Schmerzes orientiert (Bundesärztekammer: NVL Diabetes 2011/2015). Besonders bewährt haben sich dabei Duloxetin, Pregabalin, trizyklische Antidepressiva und Gabapentin. Der Goldstandard sind weiterhin die trizyklischen Antidepressiva (Amitriptylin, Imipramin), jedoch sind hierfür besonders bei älteren Patienten zahlreiche Kontraindikationen zu bedenken. Lidocain-Pflaster sind wegen der stark örtlich begrenzten Wirkung für die Therapie neuropathischer Schmerzen im Rahmen der diabetischen Neuropathie weniger geeignet.

Autonome Neuropathie

Bei entsprechender Untersuchung lässt sich schon in frühen Stadien der diabetischen Neuropathie eine Beeinträchtigung der autonomen Regulationen nachweisen. Die Diagnostik orientiert sich an der Funktionsstörung im betroffenen System (Herz-Kreislauf, Gastrointestinaltrakt, Urogenitaltrakt). Die Behandlung erfolgt nach den vorgenannten Prinzipien, darüber hinaus ist sie rein symptomatisch (s. Symposiums-Beitrag von Prof. Ziegler).

Literatur

  • Babaei-Jadidi R, Karachalias N, Ahmed N, Battah S, Thornalley PJ. Prevention of incipient diabetic nephropathy by high dose thiamine and benfotiamine. Diabetes, 2003; 52: 2110?2120

  • Berrone E, Beltramo E, Solimine C, Ape AU, Porta M. Regulation of intracellular glucose and polyol pathway by thiamine and benfotiamine in vascular cells cultured in high glucose. J Biol Chem., 2006; 281: 9307-9313 Boussageon R, Bejan-Angoulvant T, Saadatian-Elahi M, Lafont S, Bergeonneau C, Kassaï B, Erpeldinger S, Wright JM, Gueyffier F, Cornu C. Effect of intensive glucose lowering treatment on all cause mortality, cardiovascular death, and microvascular events in type 2 diabetes: meta-analysis of randomised controlled trials. BMJ, 2011: 26; 343:d4169

  • Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale VersorgungsLeitlinie Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter ? Langfassung, 1. Auflage. Version 4. 2011, zuletzt verändert: Januar 2015. http://www.dm-neuropathie.versorgungsleitlinien.de

  • Dabby R, Sadeh M, Lampl Y et al. Acute painful neuropathy induced by rapid correction of serum glucose levels in diabetic patients. Biomed Pharmacother 2009; 63:707?709

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  • Gibbons CH, Freeman R. Treatment-induced diabetic neuropathy: a reversible painful autonomic neuropathy. Ann Neurol, 2010; 67: 534-541 Gibbons CH, Freeman R. Treatment induced neuropathy of diabetes: an acute, iatrogenic complication of diabetes. Brain, 2015: 138; 43-52

  • Hammes HP, Du X, Edelstein D et al.: Benfotiamine blocks three major pathways of hyperglycemic damage and prevents experimental diabetic retinopathy. Nat  Med, 2003, 9: 294-299

  • Kähler P, Grevstad B, Almdal T, Gluud C, Wetterslev J, Vaag A, Hemmingsen B. Targeting intensive versus conventional glycaemic control for type 1 diabetes mellitus: a systematic review with meta-analyses and trial sequential analyses of randomised clinical trials. BMJ Open, 2014; 4:e004806.

  • Rabbani N, Alam SS, Riaz S, Larkin JR, Akhtar MW, Shafi T, Thornalley PJ. High-dose thiamine therapy for patients with type 2 diabetes and microalbuminuria: a randomised, double-blind placebo-controlled pilot study. Diabetologia, 2009; 52: 208-12

  • Reiners K., Haslbeck M: Sensomotorische diabetische Neuropathien. Epidemiologie, Klinik und Diagnostik. Diabetologe, 2006; 2: 92-103

  • Stracke H, Gaus W, Achenbach U, Federlin K, Bretzel RG. Benfotiamine in diabetic polyneuropathy (BENDIP): results of a randomised, double blind, placebo-controlled clinical study. Exp Clin Endocrinol Diabetes, 2008; 116: 600-6055

  • Stracke H, Hammes HP, Werkmann D, Mavrakis K, Bitsch I, Netzel M, Geyer J, Kopcke W, Sauerland C, Bretzel RG, Federlin KF. Efficacy of benfotiamine versus thiamine on function and glycation products of peripheral nerves in diabetic rats. Exp Clin Endocrinol Diabetes, 2001; 109: 330-336.

  • Thornalley PJ. The potential role of thiamine (Vitamin B1) in diabetic complications. Curr Diabetes Rev, 2005; 1: 287-298

  • Thornalley PJ, Babaei-Jadidi R, Al Ali H et al. High prevalence of low plasma thiamine concentration in diabetes linked to marker of vascular disease. Diabetologia, 2007; 50: 2164-2170

  • Ziegler D. Painful diabetic neuropathy: advantage of novel drugs over old drugs? Diabetes Care, 2009; 32 Suppl 2: S414-419

Bildunterschrift: Professor Dr. med. Karlheinz Reiners
Bildquelle: Wörwag Pharma GmbH & Co KG

zuletzt bearbeitet: 12.06.2015 nach oben

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